„In der Zukunft werden ausschließlich Talente zählen“

News am 19.06.2018

Professor Dr. Stephan Böhm (links im Bild) von der Universität St. Gallen erforscht als Direktor des „Center for Disability and Integration“ seit 2009 Erfolgsfaktoren für die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt. Der mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftler war der Hauptredner beim diwa Diversity Tag. Im Anschluss der Veranstaltung nahm er sich auch Zeit für ein Gespräch.

Wenn über die Inklusion als ein „Zukunftsthema“ gesprochen wird – versteckt man sich nicht hinter dem Begriff? 
Professor Dr. Böhm: Inklusion ist ohne Zweifel jetzt schon ein großes Thema, das allerdings in der Zukunft noch wichtiger werden wird. Die Bevölkerung wird immer älter, der demografische Wandel lässt sich nicht aufhalten und hiermit einhergehend zunehmende gesundheitliche Einschränkungen der Beschäftigten. Wenn man über Inklusion als Zukunftsthema spricht, spricht man über eine inklusive Gesellschaft, wo neben körperlicher, psychischer oder geistiger Behinderung auch Altersdiversität, Migration und weitere Themen eine große Rolle spielen. Es geht hierbei um die Schaffung einer Arbeitswelt, in der jeder seine individuellen Stärken und Hintergründe einbringen und erfolgreich in einem Team arbeiten kann. Den Begriff Inklusion gibt es seit einigen Jahren, doch in der Praxis gibt es immer noch sehr viel zu tun, um voranzukommen.

Worauf kommt es an bei der erfolgreichen Inklusion?
Professor Dr. Böhm: Es gibt viele Stellhebel. Am Beginn steht sicher ein grundsätzliches Verständnis für das Thema. Maßgeblich ist aber natürlich die Umsetzung. Barrierefreies Rekrutieren und individuelle Arbeitsplatzanpassungen spielen genauso eine wichtige Rolle wie ein funktionierendes Karrieremanagement, also die Aufgabe: Wie kann ich die Menschen in ihren Stärken weiter stärken und sie an einen Arbeitsplatz bringen, wo sie ihr Talent entfalten können. Damit wären wir auch bei einem weiteren Punkt: die Führung. Ihre Bedeutung ist auf jeder Organisationsebene erheblich. Wenn eine Führungspersönlichkeit im Unternehmen Inklusion fördert und fordert, wird die Inklusion in die Unternehmenskultur integriert und auch von den Kollegen und Mitarbeitern gelebt.

Wo kann man den größten Fehler machen?
Professor Dr. Böhm: Wenn man denkt, dass Diversität ein Selbstläufer ist.

… wieso?
Professor Dr. Böhm: Diversität ist zunächst mal eine Zustandsbeschreibung. Sie hat das Potential Innovation und Kreativität zu bringen, doch sie birgt, wie zahlreiche Studien zeigen, auch die Gefahr, dass sie zur Bildung von Subgruppen und zur Entstehung von Konflikten führt. Vielfalt ist ein zweischneidiges Schwert, eine Chance und ein Risiko zugleich. Diversität muss man sehr aktiv managen, um im zweiten Schritt die Inklusion zu schaffen.

Einer der Schwerpunkte Ihrer Forschung ist das Thema Behinderung. Die große Frage lautet: Gibt es Behinderungen oder werden die Menschen schlichtweg behindert. Wie würde Ihre Antwort lauten? 
Professor Dr. Böhm: Es ist nicht meine eigene Definition, aber ich glaube an das medizinisch-soziale Modell von Behinderung, welches von einem Zusammenspiel zwischen gesundheitlichen Einschränkungen und gesellschaftlichen Faktoren ausgeht. Wenn das Umfeld nicht inklusiv ist, kann eine körperliche oder psychische Beeinträchtigung schnell zu einer Behinderung werden. Wenn das Umfeld allerdings einwandfrei funktioniert, passiert das nicht zwangsläufig. Das Wichtigste ist also, wie Menschen miteinander umgehen und ob sie sich gegenseitig behindern.

Inklusion soll für alle Seiten „etwas Positives sein“- wieso?
Professor Dr. Böhm: Das ist wünschenswert, denn alles, was nur einer Seite nützt, ist meist nicht nachhaltig. Wir müssen begreifen, dass das Thema jeden selbst betreffen kann. Nur ein Bruchteil der Behinderungen ist angeboren. Zudem kennen wir alle Menschen in unserem Umfeld, die mit einer physischen oder psychischen Einschränkung leben. Das ist nicht nur „der Rollstuhlfahrer“, das sind auch die Freunde, Kollegen oder Verwandten, die über Jahre unter Depressionen leiden.

Und wie profitieren Menschen ohne Behinderung von einem inklusiven Arbeitsumfeld?
Professor Dr. Böhm: Menschen, die mit einer Behinderung leben, müssen oft kreative Lösungen finden. „Wie überwinde ich eine Schwelle?“, die Frage stellt sich sowohl im Alltag als auch im weiteren Sinne. Diese etwas andere Art des Denkens kann auch in einem Team helfen, innovativer und kreativer zu sein. Unsere ganze Gesellschaft hat zudem etwas davon, wenn Menschen nicht von Sozialleistungen leben, sondern arbeiten und damit Wichtiges zu der Gemeinschaft beitragen. Eingangs sprachen wir über die Inklusion als Zukunftsthema. An dieser Stelle soll auch die Digitalisierung erwähnt sein. Dass Menschen ihre persönlichen Stärken finden und die zum Tragen bringen, wird in den nächsten Jahren noch wichtiger. Demnächst werden wir alle gefordert sein, auf einem bestimmten Feld besser zu sein, als eine Maschine. Es wird also immer weniger darauf ankommen, welche Hautfarbe, Geschlecht oder Behinderung jemand hat. In der Zukunft werden ausschließlich die Talente zählen.

Wie sieht es mit der Inklusion international aus?
Professor Dr. Böhm: Unterschiedliche Länder verfolgen unterschiedliche Ansätze. Deutschland geht mit dem Thema, wie mit anderen Themen auch, relativ bürokratisch um. Wir haben eine Behindertenquote, eine Abgabe und eine vergleichsweise hohe Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung, die absolut gesehen natürlich trotzdem deutlich zu gering ist. In der Schweiz gibt es kein Quotensystem und trotzdem hat die Schweiz weltweit die höchste Beschäftigungsquote in Bezug auf Menschen mit Behinderung. In Amerika geht es viel um Chancengleichheit und Arbeitsplatzanpassungen bei einem sonst sehr marktliberalen System. Wichtig sind auch Vorreiterunternehmen in bestimmten Ländern, wie z.B. Specialisterne aus Dänemark, die eine weltweite Führungsrolle bei der Inklusion von Menschen mit Autismus einnehmen. Es können also viele Wege zum Ziel führen.

Gibt es Branchen mit einer Vorreiterrolle im Bereich Inklusion?
Professor Dr. Böhm: Funktionieren kann es überall. Von einem Callcenter über die Produktion bis zu den öffentlichen Behörden. Aus meiner Erfahrung spielt bei dem Umgang mit dem Thema eher die Unternehmensgröße als die Branche eine Rolle. Große Firmen haben oft ein ausgefeiltes Personalmanagement. Sie haben gute Prozesse für die Aufgabe entwickelt, ihr bestehendes Personal auch im Alter oder im Falle einer Behinderung weiter beschäftigen zu können. Mittelständische und kleine Unternehmen sind wiederum oft experimentierfreudiger, wenn es um bisher unbekannte Wege bei der Einstellung neuer Mitarbeiter mit Behinderung geht. Dies ist auch eine Frage der Unternehmensphilosophie.

Wie lautet die interessanteste Erkenntnis nach zehn Jahren Forschung?
Professor Dr. Böhm: Dass die Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderung bezogen auf ihre Leistungen, Erwartungen, auf die Zufriedenheit oder auf die Unternehmenstreue viel geringer sind, als viele denken.

Wie viele Auszeichnungen haben Sie für Ihre Arbeit bekommen?
Professor Dr. Böhm: Ich habe keine genaue Zahl, es müssten um die zehn Auszeichnungen sein. Viel wichtiger ist aber, dass das Thema in der Wissenschaft gut ankommt und dass die Fachwelt die Ergebnisse zur Kenntnis nimmt.

Kann ein einziger Diversity-Tag im Jahr etwas bewirken?
Professor Dr. Böhm: Das glaube ich schon. Es ist ein Signal nach innen und gleichzeitig geht es um die Netzwerkbildung nach außen. Aus jeder kleinen Bewegung kann etwas Großes heranwachsen. Auch wenn wir an dem Diversity-Tag nur einige Menschen für das Thema sensibilisieren können, hat sich der Aufwand schon gelohnt.

… wenn Sie einen Inklusions-Wunsch hätten?
Professor Dr. Böhm: Diversity und Inklusion sollten ein Stück weit professionalisiert werden. So wie das bei diwa mit der Einstellung und Instrumentalisierung von einem eigenen Inklusionsbeauftragten ist, der viel Wissen und Erfahrung auf dem Gebiet mitbringt. Das wäre schon ein großer Schritt in die richtige Richtung.

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